Buchwink #08

DIE FEINE GRAUSAMKEIT MIT GRAUSAMER FEINHEIT ERFASSEN |

SAEED JONES, EIN AMERIKANISCHER LYRIKER |

«Alive at the Ende of the World», «Am Ende der Welt noch am Leben», heisst der neue Gedichtband des amerikanischen Lyrikers Saeed Jones. Er berichtet von Trauer in einer Zeit der Trauer, von Trauerarbeit in einer Zeit, die keine Trauer anzuerkennen die Zeit hat.
Jones wurde schlagartig bekannt (in Amerika wenigstens) mit seinem Memoir «How we fight for our lives» (2019, «Wie wir um unsere Leben kämpfen»). Darin schildert er, in der Nachfolge von Richard Wright («Black Boy», 1945) und James Baldwin («Go tell it on the Mountain», 1953 und «Notes of a Native Son», 1955), seine Kindheit, Jugend und sein «Coming of Age» mit strenger Präzision. Ohne ein Augenblinzeln schaut er dem systemischen Rassismus der amerikanischen oder westlichen Gesellschaft ins Auge, schildert seine Erfahrungen aus der Perspektive einer doppelten Minorität: schwarz und schwul.

Bereits in «Prelude to Bruise» (2014, «Vorspiel einer Prellung») hatte sich Jones sowohl mit seinem Anderssein und Andersempfinden als auch mit der Person seiner Mutter auseinandergesetzt. In schamlosen, direkten Bildern hat er die Werdung seiner sexuellen Persönlichkeit thematisiert. Diese Gedichte waren schmerzhaft zu lesen, hinterliessen eine blutergossene Erweiterung in der Welterfahrung der Leserin: Das Beste, was du dir als Autorin wünschen kannst.

In seinem neuen Gedichtband verarbeitet Jones nun die andauernde Trauerarbeit nach dem Tod seiner Mutter. Diese bleibt eine wichtige Person in seinem Oeuvre: eine Art «stepping stone» für viele Aufflüge oder Abstürze seiner Poetik. Gleichzeitig gelingt es ihm, in dieser Trauerarbeit auch die gesellschaftliche Situation während der Covid-Pandemie aufzufangen oder zu spiegeln, ohne jedoch zu allgemein zu werden. Die Trauer bleibt immer konkret und als Prellung in der Lese-Erfahrung erhalten. Es sind wichtige, feine, aber auch brutale Gedichte, schonungslos und offen-ehrlich.

Und immer wieder handelt er seine eigene Geschichte vor dem Hintergrund der afro-amerikanischen Lebenserfahrung und ihrem medialen Vermächtnis ab: Gedichte sind der Legende Diahann Carroll, dem Komödianten Paul Mooney oder dem Sänger Little Richards oder der Sängerin Aretha Franklin gewidmet. In vier Prosagedichten begegnet er sich bei sich zuhause und diskutiert mit diesem «andern» Ich, weshalb der Schmerz ihn brauche, und nicht umgekehrt.

Jones beweist mit diesem Werk erneut, und ähnlich wie gerade Kim de lHorizon mit seinem «Blutbuch», wie wichtig es ist, diese «anderen» Perspektiven jenseits der schweigenden und intoleranten Mehrheitsgesellschaft über Kunst und Literatur in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Und wie relevant die Erlebnisse von Minoritäten sind, um die heutige Gesellschaft, voller Spaltungen (Stichwort Covid-Lügner) und Schein-Konflikte (Stichwort Energiekrise), von ihrer Halsstarrigkeit und argumentativen Lähmung zu erlösen.

Dädalus, nach Ikarus
(Aus «Prelude to Bruise»)

Buben beginnen sich um den Mann zu versammeln wie Möwen
Er ignoriert sie ganz und gar, aber sie folgen ihm
Von einem Ende des Strands zum anderen.
Ihre Fussabdrücke brennen Löcher in den Sand.
Es ist ein ziemlicher Anblick, eine fremde Prozession:
Ein Mann mit einem Paar Flügel an die Arme geschnallt
Gefolgt von einer Meute aufgeregter Buben.
Einige kreischen und klappern mit ihren knochigen Gliedern.
Andere versuchen hin und wieder hoch zu springen, stolpern,
Da der Sand an ihren Füssen zerrt. Ein Bub tut so, als fliege er
In einem Kreis um den Mann herum, krächzt in sein Gesicht hinein.

Wir kennen seinen Namen nicht oder warum er
An unserem Strand entlang läuft, zum Wind redend.
Ganz zu schweigen von diesen Flügeln. Eine Frau schreit
Ihrem Sohn zu, frag ihn ob er mir ein paar macht,
Vielleicht werde ich endlich deinen Vater verlassen.
Er beantwortet unser Gackern mit einem plötzlichen Halt,
Dreht ab und läuft gegen das Wasser.
Die Kinder springen hinter ihm in die Wellen hinein.
Über das Geräusch ihrer Schläge und ihres Kicherns hinweg
Hören wir einen Bub sagen, wir wollen keine Flügel.
Wir wollen jetzt Fischer sein.

Anmerkung: Ob Jones hier auf das berühmte Gedicht von Williams Carlos Williams anspielt? Hier der Link auf das Gedicht «Landscape with the Fall of Icarus»

Oliver Füglister

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