Buchwink #13
Erstellt am: Oktober 14, 2024 Kategorie: Rezension Von zoe Keine Kommentare

DAS SCHWEIGEN STREIFEN – ZU MATTHIAS GYSELS MIKROLYRIK |
«EINE GEIGERIN ZUPFT DEN REGEN» |
Zwischen |
Messer und Gabel |
liegt ein Wort |
M. Gysel
Dichtung ist zuallererst Beobachtung. Sie nimmt das wahr, was einen umgibt. Sie nimmt aber vor allem das wahr, was anderen entgeht, weil es als wertlos erscheint. Sie sammelt, was ihr entgegenkommt, ohne zu gewichten, ohne zu werten. Die Dichtung hat einen (Spür-)Sinn für die Welt. Deshalb hat sie auch keinen privilegierten Zugang zum Ausserordentlichen, wie sie gerne auch dargestellt wird. Sie kennt keine Offenbarungen und der Dichter bzw. die Dichterin ist nicht Sprachrohr einer übersinnlichen Welt. Im Gegenteil, die Dichtung entdeckt im Alltäglichen das Ausserordentliche.
Eine solche Beschreibung von Dichtung passt zum neuesten Band «Eine Geigerin zupft den Regen» (Verlag Steinmeier, 2024) des in Richterswil (ZH) lebenden Lyrikers Matthias Gysel. In Kondensaten hält seine Mikrolyrik fest, was ihm begegnet. Die Palette an Themen ist dementsprechend gross – von subjektiv gefärbten Erlebnissen bis hin zu objektiv wirkenden Beschreibungen der eigenen Umwelt. Dabei tauchen immer wieder Alltagsbeobachtungen auf, die eine überraschende Wendung enthalten. Im Folgenden sollen hier zwei Beispiele hervorgehoben werden:
Gartenrestaurant
Eltern flüstern
ins Kindergeschrei
Wer von uns hat die beschriebene Szene nicht selbst erlebt – als Zuschauer oder als Elternteil. Es geht um den Versuch der Eltern, ihre Kinder zu mehr Ruhe zu gemahnen. Dabei baut Gysel in diesen drei kurzen Zeilen gekonnt eine Spannung zwischen dem Geschrei der Kinder und das Flüstern der Eltern auf, die dem Geschehen eine unerwartete Pointe geben.
Wie das Bespiel zeigt, bearbeitet der Autor seine Gedichte so lange, bis nur noch das Wesentliche zum Vorschein kommt. Gysels Gedichte streifen das Schweigen, um mit so wenig Worten wie möglich das zu sagen, was sich zu sagen lohnt – wie auch im folgenden Gedicht:
allein
zu Tisch zu
zweit
Mit nur fünf Wörtern schafft es Gysel, einer Alltagsszene einen kritischen Unterton zu geben. Da meint man zunächst, dass einer allein am Tisch sitzt. Aber man irrt sich, da ist noch eine zweite Person – und trotzdem bleibt die Szene weiterhin vom Alleinsein geprägt. Denn selbst in trauter Zweisamkeit kann das Alleinsein spürbar werden. Vielleicht sogar in noch viel stärkerem Masse, weil der andere zwar da, aber aus welchem Grund auch immer unzugänglich bleibt.
Gysels Buch ist eine Fundgrube an solchen Gedichten, die uns unsere Umgebung mit anderen Augen zu sehen erlauben. Seine Lyrik ist somit ein willkommenes Mittel gegen die umgreifende Sucht nach dem Ausserordentlichen und Spektakulären und eine Einladung, das Kleine und Alltägliche wieder in den Blick zu nehmen. Denn für denjenigen, der Augen und Ohren hat, verbirgt sich darin das noch grössere Spektakel.
Giuseppe Corbino
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