Justin Koller


Carte Blanche 2019/2 von Justin Koller
© 2019 by Justin Koller



‹Carte Blanche› ist ein Angebot von PRO LYRICA. Hier stellen sich Lyrik-Autorinnen und Lyrik-Autoren für die Dauer einiger Monate mit Arbeiten vor. Sie möchten hier publizieren? Senden Sie eine Anfrage an: carteblanche@prolyrica.ch


 

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Landschaften lesen

auf buckligen horizonten
teppiche ausgelegt
mit flaumeichenwäldern

sie tragen und wiegen
die schatten der wolken
auf rücken und flanken
und unten im tal

im hain dunkle zypressen
vor hellen wiesen
etrurische zeichen
auf umbrischen farben

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Morgen in Çandarli

meine wege heute
werden tiefblau sein
bald wirft das schiff
die stille der nacht
ab wie einen pelz
die nixen hüpfen
über den gehsteig
Yussuf dankt Allah
für das erste geschäft des tages
ich aber fahre im
frischen Meltemi hinaus

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Auf dem Rücken liegend

unter ästen die sich an den wind
erinnernd langsam schwingen
unter silberfarbnen zweigen die
mit stiller geste zittern so als ob
sie sich bereits im frühen jahr
vor sommers dürre fürchten

unter ästen dessen heissen atem
ahnen: fieberig im gegenlicht

unter blendend heissem firmament
die lider schliessen
den rücken weich im warmen sand
die müden füsse ab
streifen abheben so leicht
wie rosenblätter aus El-Kelaa

sich eins hier fühlen
im zentrum der weit

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Bar im Excelsior

blinker gestellt
zu getunten augen
gloss ferrarirot
seidenglanz im gegenlicht

ein atemaufschub
vor dem ersten wort ̶
wir sind unter uns
in armanischer nacht

bis der blutdruck
unerwartet fällt
ein smarter wellnesser
diamantberingt legt

mit leichtem druck
die hand auf ihre schulter
dreiundzwanzigfünfzig
auf seinem Breitling chronomat

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Hotel Mediterranee

die woche aus späten sommertagen
schreibt an einem novembergedicht
ein alter trägt seiner frau
den schwimmgurt nach
das paar scheint sich abgefunden zu haben
mit sich im reinen
suche nach gleichmut
das meer webt
mir einen teppich
türkisfragil
  

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Avantgarde

der kommerz hält sich
die schöne sklavin kunst
eine idylle platzt
künstler realisieren
der kunstzirkus ist nichts anderes
als läuse an den hintern der künstler
wie es vor jahrzehnten
Marcel Duchamp
auf den punkt brachten

Text zu einer Installation von Luca Francesconi, Biennale Venedig 2011

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Das Verschwinden der Sabinerinnen

die brüste geschmolzen
die schenkel verbrannt
flammen tanzen rot
in den haaren der furien

fackeln des wahnsinns
stück für stück brechen
arme füsse hände weg
im blitzlicht der voyeure
zerschmilzt die schöne gestalt
 
Text zur Installation von Urs Fischer: Raub der Sabinerinnen, Biennale 2011, Arsenale

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Poetenlos

ungewiss ob worte
dir heute antworten
der augenblick gibt dir nichts
mit ihm streiten was solls
lass ihm seine launen
streich zeile für zeile
gib einfach zu
heute fliegt pegasus nicht

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Zyklopeninseln

zwischen den felsen drosselt
das boot die fahrt
streckt hier
ein abgesoffener stier
seine hörner aus dem wasser

mit letzten kräften
erzählt uns ein blinder
ruderten Odysseus und seine gefährten
als Polyphem mit basaltbrocken
nach dem schiffe warf aus

rache weil durch die bekannte list
die flucht aus der widderhöhle gelang
rücklings an die bäuche der tiere gekrallt
geblendet ertastete er sie nicht
mit günstigem wind entkam der listenreiche Ithaker

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Oktober in Cavo

absichtslos die tage
zu rasch zieht meine zeit
ein früher abend kühlt
die sommerwarme haut

 

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Vom Morgen

noch keine taten verlangen
blicke aufs meer
es ist nie täter nie opfer
wir sinds

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Abendlicht

abendlicht umschmeichelt
weich den glänzenden strand
bezirzt den eifersüchtigen fels
bis dämmrung mit kaltem schnauf
es heimruft und die farben löscht


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