Rajan Autze

CARTE BLANCHE Rajan Autze |

Der Herbst fault sich ins Laub, / im Gestrüpp sind Plastiktüten verheddert, / Kot, Kondome, Klopapierfetzen. / Der Beton des Bahnsteigs zerbröckelt. / Igelnester hinter den Gleisen, / Brombeerhecken, die neben dem Stromkästchen wuchern. / 

Der Morgenfrost hat sich in Pampe verwandelt, / der liebe Gott hat alle Farben vermischt, / mit viel zu viel Ocker gepanscht. / Die Foto-Filter nützen nichts mehr, / das Aquarell ist vermasselt. / Die Insta-Story erzählt nur das eine: / die Welt ist verkatert und hat die Migräne, / steckt an irgendnem Scheissbahnhof fest. //

Carte blanche 2023/2 | © 2023 bei Rajan Autze |  

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Mon automne.

Endlich die Stürme und Rabenrufe,
Der Stimmbruch vergeistigter Wälder,
Regenflüge durchs fliegende Laub.

Endlich vernebeln die Aussichtshöhen,
Der Himmel liegt schwer in den Winden,
Und die Wolken umgreifen die Welt.

Irrig verwehen die Blätterreste
Wie flüchtige Zeichen. Das Sturmtief
Drückt dich in den verregneten Tag.

Sollte nicht die Melancholie ihren düsteren Mantel
nächtlings zum Eulenflug öffnen?

Doch sie belauscht sich; und hinter den Stereotypen
bleibt die Weisheit die alte:

Monoton.

Sonbahar.

Dich lieb ich mehr als den Sommer,
Blätterverwehte,
tief liegt dein Schatten im Laub.

Leg dich auf mich mit frostigen Nächten
und lass mich die Sonnenstunden vergessen,
die Du auf der Haut trägst.

In deine Haare vergraben lausch ich dem Rauschen des Südens,
ungreifbar wie Pappelkronen im Nebel.

Ich schick dir keine Sommersprossen mehr
Ich bestelle gleich den Herbst,
ich wünsche mir die Rabenrufe her,
als wenn Du gar nichts wärst.

Ich vergrabe jedes Bild von Dir
Ich stopfe sie ins Igelnest,
Ich kuschel mich zum Winterschlaf,
vergesse dich und träum vom Rest.

Ich laufe durch den Schneematschregen,
Bedecke mich mit Strassenlaub,
Erfriere die Erinnerung,
An die ich nicht mehr glaub.

Du nicht.

Und wenn ich auch deinen Nachtschatten küsste,
sommernachtsträumend schattengeblendet,
und einzutauchen gedächte ins
Nimmermehrreich deiner Nachtschattenblüten –

und wenn ich für dich auch die Meere durchstreifte
in tropischen Stürmen mit Kaperbriefrechten,
Seeräuberjenny dich taufte,
Sulamith und Lilith –

und wenn ich dich fände in den Kastanienalleen,
in Dornröschenvorgärten, den Villenvierteln der Stadt,
wo Klaviere den Sonntag verzaubern,
am locus amoenus, am Nullpunkt der Pole –

Du, du bist doch die,
die strahlend zerfiele
im Nuklearkrieg des Alltags,
die als grobkörniges Bild nur
durchrasteter Fahndung,
als löchrige Zuflucht unbegreifbarer Liebe
bleiben kann: mein.

Brandmauer (Berlin).

Sichtschanze, fensterloses Interieur:
an deinen Kanten bricht sich der Stirnwind,
Schwamm und Fäulnis weh’n an.

Fassadenlos bröckelt dein Putz,
wirft Blasen, unter denen die Spinne ihr Netz baut,
Heimstatt angstvoller Träume.
Und was ihr an Beute entfällt,
rinnt mit dem Regen hinab,
ins Unkraut am Fusse der Mauer,
auf brachliegenden Grund,
ruppig, schmutzig, auf immer verloren.

Winterwände des Krieges,
Grundehrlich und trostlos.
Wer kann so leben?

Gravur in Chillon.

Tourismusperle, architektonisch schön.
In einwandfreier Lage: Das Schloss im See.
Schon damals packend, Blickfang vor der
Alpenkulisse. Gebannt vom Anblick,

im Sturm, vom eignen Schicksal ergriffen naht –
im Schädel das gravierende Missverständ-
nis: «kettenlose Seelenkraft», ver-
götterte, die sich verkuscht hat hinter

dem hehren Zeichen ihres Altars: die In-
Schrift, felsenfest markiert, das Signieren, gros-
se Geste, dritte Säule, reise-
führerverhaftet im Kerker: – «Byron».

Passionsfrucht.

Ich kann kaum klagen! Doch
ich wills mir aus dem Kreuz leiern,
ich weiss, was mir blüht:
Reiche Ernte an Zipperlein steht zu erwarten.
Aber: bevor mir die Worte im Halse stecken bleiben,
verdreh ich sie lieber mir selber im Munde:

Ein jeder hat sein Päckchen zu tragen,
hat seine liebe Mühe mit irgendetwas.
Man fühlt sich elend, bis aus dem Häuflein ein Berg wird –
den kann man dann mit Löffeln fressen,
bis man an aller Weisheit Ende gelangt;
dann ist wohl endlich Ruhe im Dom,
weil man dann davon die Schnauze gestrichen voll hat,
wovon man den Hals nicht vollkriegt.

«Leiden sind Lehren»
und «geteiltes Leid ist halbes Leid».
Ist das der Weisheit letzter Schluss?
Gott bewahre!
Bescheidenheit üben!
Stell dich bitte nicht so an!
Wie sollte ich klagen?
Ein jeder hat sein Päckchen zu tragen,
es ist ein Kreuz damit!

Das alles ist mir, was sonst, ein Dorn im Auge,
und ich will doch dem Fass nur noch die Krone aufsetzen,
ich weiss, was mir blüht.
Jetzt nur nicht die Nerven verlieren,
nosce te ipsum:

Man muss in den sauren Apfel beissen!

Fluchtpunkt.

Am Ende der Strassen,
verschwommen im Dunst: der Fluchtpunkt,
zentralperspektivisch, blosse Idee,
Fixstern unserer Blicke.

Doch wir sehen weiter, weit darüber hinaus.
Von allen Seiten schauen wir hinter die Dinge,
gehn den Sachen auf den Grund,
in jedem Moment und alles auf einmal.

Und die Welt stürzt über unseren Ansichten in sich zusammen:
Sinnsucher, Glücksritter, philosophische Spieler,
Vernunfttiere mit schwächelnder Liebe,
unbelehrbare Kubisten.

Dem Fluchtpunkt folgen wir nur, wenn wir schnell genug fliehen. Dann verwischt unser Bild, und in der Mitte bleibt nur ein Zittern, die blosse Idee.

Landebahn.

Der Sportplatz im Flutlicht,
unzählige Ampeln und Strassenlaternen,
Autoscheinwerfer, erleuchtete Pools.
Lebens- und Lichtergewebe,
flüchtig, abstrakt und entfernt.

Nur die Landebahnleuchten blinken stabil,
in Keilform, zentralperspektivisch.
Trugbild aus Renaissance oder Surrealismus,
das falsche Versprechen:
welcome in, thanks for flying with,
bitte angeschnallt bleiben, bis.

Gibt es die endgültige Parkposition?

Wolke sieben ist im Himmel geblieben;
das Rollfeld von grossen Lampen erhellt.
Grau, kalt, verregnet,
Todesstreifen hinter der Mauer.

Die Erde hat dich wieder.
Safe journey, pleasant stay.
Nirgends ein Trost.

1 response to "Rajan Autze"

  1. Von: Ursula Sommer Erstellt am: 16/04/2023

    Schonungslos offen, geht unter die Haut!

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