Enjambement

Engel fallen und Wörter. Die einen werden aus dem Himmel geworfen, die andern aus dem Vers gestossen. Die einen in den nächsten Vers, die andern auf die Erde. Um sich zu retten, springen die meisten Wörter, kurz bevor sie gestossen werden. Lyriker, die den Zeilensprung anwenden, sprengen die Vers- und häufig auch die Metrumsgrenzen: sie spannen die Aussage weiter als das Sinn- oder Inhaltsgefäss des Verses, und schaffen so neue rhythmische Strukturen im Gedicht. (S. auch Vers)

Hier zwei Beispiele:

→ Vom eigentlichen Meister des deutschsprachigen Enjambements Rainer Maria Rilke:

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
Sich lautlos auf —. Dann geht ein Bild hinein,
Geht durch der Glieder angespannte Stille —
Und hört im Herzen auf zu sein. 

(In der letzten Strophe des Gedichts ‹Der Panther› bricht der Dichter hier die Sinngrenze des Verses, die er bisher strickt gewahrt hat, auf, und damit auch den Käfig des gefangenen Tieres.)

→ Von einem andern Meister des Verses, Gottfried Benn:

Ohne Rührung sieht er, wie die Erde
Eine andere ward, als ihm begann,
Nicht mehr stirb und nicht mehr Werde:
Formstill sieht ihn die Vollendung an.

(Wer allein ist, 1937; auch hier wird das Enjambement zur Verdeutlichung des Gesagten benutzt: die Erde wird erst im zweiten Vers der Strophe ‹eine andere›, alt und neu bleiben so getrennt.)

Und als Zugabe den Einblick in eine vor-klassische Lyrik-Arbeit, in die Werkstatt Gottlieb Friedrich Klopstocks. Dieser entscheidet sich für ein ihm ganz uneigenes Enjambement, um die Kraft einer Aussage mit Ausdruck zu unterstreichen. Aber schauen Sie selbst; das Beispiel stammt aus dem „Messias“.

1. Version (1748)

… Ich breite mein Haupt durch die Himmel,

Meinen Arm durch die Unendlichkeit aus, und sag: Ich bin ewig!

Sag, und schwöre dir, Sohn: Ich will die Sünde vergeben!

2. Version (1799)

… Ich breite mein Haupt durch die Himmel,

Meinen Arm aus durch die Unendlichkeit, sage: ich bin

Ewig! Und schwöre dir, Sohn: Ich will die Sünde vergeben.

Die Auftrennung des Satzes „Ich bin ewig“ führt zu einer Verstärkung der Aussage, denn Gott, von dem hier gesprochen wird, ist einerseits radikales Sein (wie oft sagt er im Alten Testament: Hier bin ich, ich bin es) und darin andererseits ewig andauernd.  OF

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