Martina Caluori

Poemie.de-Rezension |

Weltschmerz einer Gedankennärrin Martina Caluori ‹Frag den Moment› |

Als säße ich einem fremden Mensch gegenüber und hörte ihm einfach zu, ohne einen bestimmten Gedankengang zu erwarten – so lese ich den Gedichtband ‹Frag den Moment› (in zwei Auflagen von bislang nur insgesamt 200 Exemplaren im Verlag PROLYRICA) von der jungen Schweizerin Martina Caluori (aus derselben Generation wie Tanja ‹Lulu› Play Nerd!) beim ersten Durchlauf: 
unvoreingenommen, bereit für ein lyrisches Neuland und neugierig darauf, was mir eine 1985 geborene studierte Filmwissenschaftlerin zu erzählen hat, und vorallem: wie? Nach einigen ‹szenischen› Gedankensplittern, die wie Blitzlichter aus dem ‹braunen Nichts› (Seite 30) ihrer Gefühlswelt auftauchen, lande ich auf Seite 41 bei einem genialen Ultrakurzgedicht (‹Wüstes Leben…›), das so plötzlich wie eine Drohnenbombe mit zugleich zynischer und doch stoischer Kraft einen Krater in meiner Wahrnehmung aufreißt, mich wachrüttelt aus dieser Trance, die beim Lesen ihrer melancholischen, bitteren, abgeklärten Andeutungen vorher entstand: jetzt ist die Brutalität der politischen Wirklichkeit ganz da! Geschickt eingefädelt, indem sie sich zunächst an persönlichen (biografisch wirkenden) Erlebnissen abarbeitet, die um die Themen Liebe, Begegnung und Tod kreisen, dann zu psychophilosophischen Interpretationen der Postmoderne übergeht, um dann in der gesellschaftlichen Reality-Soap anzukommen, die so unerträglich auf der Seele lastet (Seite 29: ‹Das Gewicht / der Gedanken / von meinem Rücken / unmöglich / abzuschütteln.›), daß es einer übermenschlichen Selbsttranszendenz bedarf, die sich danach im Gedicht ‹Fortschritt› (Seite 43) wie ein nietzscheanischer Zarathustra entfaltet: ‹Die Gipfel getaucht in Licht / Zu meinen Füssen / das Geröll der Wahrheit.› Ab hier entwickelt die Dichterin eine Fähigkeit, sogar ihre eigene Heimat radikal zu kritisieren: die ‹helvetische Doppelmoral› (Seite 47) der schweizerischen Flüchtlingspolitik lässt das lyrische Ich allmählich in stiller Trauer verstummen, der gesamte Weltschmerz gleicht bald schon einer Urne voller ‹apathischer Asche› (Seite 50), die als toter Ehrengast des Lebens zum Zaungast einer selbstverordneten Verwandlung wird – die Dichterin empfiehlt dem Leser schlußendlich, in ein neues, noch leeres Gedankenhaus umzuziehen (Seite 52). Sie wirkt selber zwar besorgt, aber dazu bereit.

Dieser gesamte Gedichtband von 2019 scheint mir beim nochmaligen Schnelldurchlauf vom zweifachen Abschied zu sprechen, einerseits dem Loslassen von traumatischen Emotionen (Tod), andererseits aber auch dem Überwinden des inneren Exils (Auferstehung). Ich durchlaufe als Leser eine Art psychotherapeutischen Reifungsprozess in poetischer Zeitraffer einer ‹Gedankenspirale› (Seite 28) mit dramaturgischem Höhepunkt beim Sonnenaufgang auf der Bergspitze und offenem Ende, das dem ‹Käfig des Geistes› (Seite 3) eine neue Dimension von Freiheit ‹in zartem Pastell› (Seite 52) schenkt. Trotzdem spüre ich gerade dadurch eine unausgesprochene Warnung davor, den schmerzbefreiten (statt nur betäubten) Geist nicht mit Weichzeichner zu tapezieren, sondern sich scharfe Konturen in kräftigen Farben zuzutrauen! Ich bin daher gespannt auf ihren nächsten Gedichtband …

Tom de Toys, 1.3.2020


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