Rezension ‹Die Struktur der modernen Literatur›
Erstellt am: März 14, 2022 Kategorie: Interessantes Von zoe Keine Kommentare
PETER RUDOLF LIEST FÜR PRO LYRICA |
DAS STANDARDWERK VON MARIO ANDREOTTI | 6. ERWEITERTE AUSGABE
«Ich habe in diesem Buch mehr gefunden, als ich gesucht habe. Mein Eindruck: ein Buch von unendlicher Brauchbarkeit.» Martin Walser
Der emeritierte Professor und Hochschulpädagoge hinterlässt mit der sechsten Auflage ein praktisches Nachschlagebuch auf aktuellem Stand. An welche Leserschaft sich das Buch – speziell auch mit seinem 45 Seiten starken, noch einmal erweiterten Glossar am Buchende – wendet, formuliert der Autor im Vorwort zur sechsten Auflage folgendermassen:
Die sechste Auflage ist […] bewusst nicht nur als Lehrbuch für den Literaturunterricht an höheren Schulen und für Studierende der Literaturwissenschaft, sondern auch als Nachschlagewerk für ein literarisch interessiertes breiteres Publikum konzipiert, darunter nicht zuletzt für praktizierende Autorinnen und Autoren […].
Mario Andreottis zum Standardwerk der literarischen Moderne avanciertes Sachbuch feierte am 1. März 2022 in der Kantonsbibliothek der Stadt St. Gallen seine sechste Auflage. Noch mehr Übersichtlichkeit, Lesefreundlichkeit und vor allem das gewohnt sichere Erklären eminent wichtiger Begriffe der aktuellen Literaturwissenschaft anhand treffender Beispieltexte zeichnet die Neuauflage aus.
Ausser Betracht soll nicht gelassen werden, dass der Autor wiederholt auf die Grenzen der Gültigkeit seiner hoch differenzierten Ausführungen weist. Beispielsweise zum Kapitel 6 «Epik: Erzählen in der modernen Prosa». Am Ende des ins Thema dieses Kapitels einführenden Überblicks heisst es auf Seite 115:
Unsere Bestimmungen des Strukturwandels sind selbstverständlich als tendenzielle und insofern verallgemeinerte Angaben zu verstehen. Sie beschreiben ein generelles Entwicklungsbild, dessen Elemente nicht für jeden modernen Prosatext in vollem Umfang zutreffen:
[im Buch folgt auf S. 116 eines der vielen übersichtlichen und zusammenfassenden Schaubilder]
Solche Hinweise auf Grenzen der im Buch gemachten Aussagen finden sich immer wieder. Daneben finden sich aber auch Hinweise auf aktuelle Themen. Hier ein Beispiel aus Kapitel 4 «Die geistigen Kräfte unserer Epoche: Ihre Auswirkungen auf die moderne Literatur»:
[…] die Häufung von Fällen sexuellen Missbrauchs […], deren Vertuschung [sinngemäss eingefügt vom Rezensenten] […] durch Vertreter der Kirche […] dem Ansehen der Kirche äusserst schadet.
(S. 96, Ende Kapitel 4.2.2 «Christliche Religionen und Kirchen»)
Im Buch folgt das nüchterne und sehr praktische, neue Kapitel 4.2.3 «Buch und Markt: Einblicke in die Gesetze des Literaturbetriebs». Hier geht der Autor in den ersten beiden Unterkapiteln auf «Die ökonomische Situation der Schriftsteller» (S. 96 f.) und die «Schwierige Verlagssuche› (S. 97 ff.) ein.
Rund 170 Seiten später folgt als weiterer Hinweis:
Der Leser wird aufgefordert, wachsam zu sein gegenüber den alten Feuerlegern, die sich harmlos geben, dabei aber die nächste Katastrophe vorbereiten. Die Warnung vor der Gefahr eines neuen Totalitarismus ist deutlich. (S. 267)
Für das Verständnis wichtig ist zu wissen: Mario Andreotti schreibt diese zwei Sätze im Rahmen einer exemplarisch literaturwissenschaflichen Auseinandersetzung mit einem Gedicht von Bert Brecht. Dem besprochenen siebenzeiligen Gedicht ist explizit ein Bezug zur SS des deutschen Nationalsozialismus immanent. – So aus dem Zusammenhang gerissen, könnte das Zitat falsch verstanden werden. Mir scheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht nur diese spezielle Textstelle, sondern das ganze Buch sehr viel davon profitiert, dass Andreotti auch Historiker ist. Ganz besonders scheint mir dies von Wichtigkeit für das weiter oben schon erwähnte Kapitel 4.
Vier Änderungen gegenüber früheren Ausgaben, auf die der Autor schon und hauptsächlich im Vorwort hinweist, seien hier aufgelistet:
Hinzugekommen sind zwei neue Hauptkapitel: das schon erwähnte Kapitel 4.2.3 mit dem Thema «Buch und Markt» sowie das Kaptil 6.5.3 zur «Intertextualität und Mehrfachkodierung». Die beiden Kapitel 6.4 (zum entpersönlichten Erzähler in der modernen Prosa) und 9.4 («Die Entpersönlichung des lyrischen Ich im modernen Gedicht») wurden erweitert durch neue Unterkapitel.
Die Aufgaben zu jedem Kapitel finden sich neu nicht mehr im Buch, sondern nur noch im Internet. Dort finden sich – und dies schon seit der vierten Auflage von 2009 – auch die Lösungsvorschläge zu den Aufgaben.
Gegenüber der vierten und fünften Auflage sind es nicht mehr 488 Seiten, sondern nur noch 405. Dafür hat sich das Buchformat von den gewohnten 12 x 18,5 cm auf 15 x 21,5cm vergrössert. Dadurch gewinnt die Neuausgabe an Übersichtlichkeit besonders auch bei den Grafiken, beispielsweise bei vierspaltigen wie auf den Seiten 120 und 124.
Im Kapitel 11 «Experimentelle Literatur und konkrete Poesie» figuriert unter dem letzten Kapitel 11.5 […] «Literatur für mobile Geräte» neben dem alten Unterkapitel «Handyroman und Handylyrik» neu auch eines für Twitter-Lyrik.
Der Rezensierende schliesst sich gern dem Wunsch an, mit dem Mario Andreotti das Vorwort dieser Auflage eröffnet: «Fahr wohl, Schiff, segle dahin mit freundlichen Winden.» Dies um so mehr, als aus dem schon 1983 bemerkenswerten Binnenseeschiff – in der ersten Auflage mit seinem kleineren Format und mit 294 Textseiten – ein äusserst bemerkenswertes Hochseeschiff geworden ist. TextKlopfer
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Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur
405 Seiten, Softcover, 15 x 21,5 cm
utb 1127, Haupt Verlag Bern 2022
6. Auflage, ISBN 978-3-8252-5644-9
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