So viele Bücher
Erstellt am: Oktober 03, 2016 Kategorie: Feuilleton Von zoe Keine Kommentare
Ein Zuviel an Büchern mit einem grossen Ja, aber
Es gibt diese wundervolle Geschichte aus Cortazars ‹Geschichten von den Cronopien und Famen›, in der die Welt buchstäblich von den zu vielen Büchern vernichtet wird. Denn in dieser Zukunft liest niemand mehr, aber alle schreiben. Diese Zukunftsvision aus den frühen 60-er Jahren erscheint heute fast gespenstisch real.
Beuys’ Ausspruch, jede und jeder sei ein Künstler, eine Künstlerin, wird heutzutage von immer mehr Zeitgenossen beim Wort genommen, und die Rückfrage an ‹solche Individuen›, weshalb sie denn (unbedingt?) veröffentlichen wollten, schreit noch immer mit grosser Dringlichkeit nach einer glaubwürdigen (glaubwürdigeren?) Antwort.
Gabriel Zaid liefert uns in seinem Buch von den ‹so vielen Büchern› einige einleuchtende, wenn auch nicht ganz neue und daher auch nicht besonders hilfreiche Fakten zum Buchmarkt und seinen wichtigsten Antriebsfaktoren (den Autoren). In einigen Momenten sind diese durchaus schockierend; die Anzahl der jährlich publizierten Bücher steigt ohne absehbare Obergrenze (alle 30 Sekunden erscheint ein Buch), doch ist dieses Faktum dem Allgemeinsterblichen auch mit Lastwagenfuhren bis zum Mond und eventuell zurück nicht zu verdeutlichen, sieht die Leserin ja auch immer nur eine Promille-Anzahl aller Bücher in Buchhandlungen und Bibliotheken.
Zaids schmales Bändchen verspricht auf diese unsere heutige Situation somit keine Antworten oder gar Lösungen, vermittelt aber dennoch einige hilfreiche Impulse für Kultur- und besonders Buchpessimistinnen:
- Solange das Buch als Teil eines Dialogs verstanden werden kann, ist ihm eine gewisse gesellschaftlich-kulturelle Relevanz (noch) nicht abzusprechen: trägt es doch zur Stimmen-Vielfalt und somit vielleicht gar zum Wissens-Austausch bei, ja reanimiert diesen sogar im besten Fall.
- Dem Buch, so gross seine Auflage auch sein mag, kann und darf der Charakter eines Massenmediums abgesprochen werden: nicht nur auf der Ebene der Produktionskosten, auch auf jener der Nachfrage kann das Buch nicht verglichen werden mit Filmen, Radiosendungen oder Fussballspielen. Sein Impuls betrifft und involviert jeweils zu wenige Akteure.
Doch auch nach diesen (wertvollen?) Feststellungen bleibt eine Frage offen:
- Zu viele Bücher bieten nicht den Mehrwert, bereichern den jahrhundertealten Dialog um ein zu Weniges, und werden dennoch gedruckt; wecken nicht einzulösende oder nicht eingelöste Erwartungen, nur um sie zu enttäuschen (als wollten sie sie enttäuschen!). Weshalb gibt es sie trotzdem? Ausfluss des modernen Selbstverwirklichungstriebs, der sich neuerdings mit den modernen technischen Möglichkeiten koppelt?
Vor dem skizzierten Hintergrund scheint es dem Rezensenten, jedes Buch müsse sich diese Frage gefallen lassen, dass wir Leserinnen es dahingehend abtasten und verkosten, inwiefern es dem bereits lange schon bestehenden Diskurs, in den es sich einfügt (oder einzufügen vorgibt), einen neuen Aspekt abzugewinnen oder einen unerwarteten Dreh zu verleihem vermag.
Das soll nicht heissen, wir dürften keine Bücher mehr schreiben, wir Autorinnen und Lyriker, – doch sollten wir dies weiterhin und immer wieder mit der Absicht tun, etwas zu schaffen, das die Literatur, die Kultur ‹weiterbringt›; ganz im Sinne von Pessoas Anspruch, nicht Literatur, sondern Literaturen hervorzubringen.
Ausgehend von einem Gedanken Zaids (bzw. Sokrates’), der die Kultur des Gesprächs als eines in Vergessenheit geratenen Kulturtriebmittels unterstreicht, müsste man sogar mehr Mündlichkeit statt Schriftlichkeit fordern. Der Rezensent erlebt nur allzu häufig die Totgeburten von Erzählung – immer aus dem Mangel an Erzählerfahrung und -Tradition und… Übung! Natürlich hat die Poetry-Slam-Szene hier grosse Verdienste, hat sie sich doch gerade diese Mündlichkeit, dieses „Gerade-jetzt“, diese Direktheit und diese direkte Verständlichkeit auf die Fahne geschrieben. Angesichts einer allmählich drohenden Kabarettisierung dieser Szene ist jedoch nur zu hoffen, dass der eine oder die andere Lyrikerin sich wieder einmal der Spontaneität des gesprochenen Worts befleissigt oder einfach wieder mal ‹vor(w)ort› statt auf Papier loszulegen.
Oliver Füglister, 2.10.2016, aktualisiert 20.10.16, mit Dank an Hans-Jürg Zingg für Anregungen und Korrekturen
So viele Bücher
Erstaunliches, Kurioses und Nachdenkliches rund ums Lesen
von Gabriel Zaid. Campus, 2005, 143 Seiten, ISBN 9783593376561
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