Zukunft als Gedicht

Es gibt die Zukunft auch als Gedicht

Eine Kolumne von Niklaus Peter
Das Magazin N°6– 10. Februar 2018

Kürzlich habe ich ein intelligentes, witziges und zugleich ernstes Gedicht des amerikanischen Poeten J. R. Solonche aus dem elektronischen Ozean herausgefischt: ‹The Poem of the Future›* beschreibt das künftige Gedicht wie ein noch in der Konzeptphase befindliches Mobiltelefon.

Das Gedicht der Zukunft, so imitiert Solonche den Sound des kompetenten Zukunftsexperten und Technologiescouts (aber eben in der dichterisch raffinierten Alltagssprache moderner amerikanischer Lyrik), werde kleiner sein, gut in der Hand liegen und auch am Arm oder Ohr tragbar sein. Es werde keine dicken Batterien brauchen, von Mondlicht angetrieben sein und deshalb monatelang problemlos laufen. Aus edlen Kunststoffen und seltenen Metallen gefertigt, werde es in vielerlei Farben und Formen zu kaufen sein. Das Gedicht der Zukunft, so wechselt der Poet Solonche dann die Tonlage und wirbt wie ein pastoraler Werbetexter, werde unser Leben wahr machen, es werde in einer Sekunde das leisten, wofür ein Gedicht heute noch einen ganzen Tag brauche. Es werde zu uns sprechen und Dinge sagen wie: ‹Kaufe IBM-Aktien›, ‹Sei mein Freund› oder: ‹Pulvis et umbra sumus› (Staub und Schatten sind wir – es kann sogar Lateinisch…)

Grossartig witzig und tiefsinnig, wie hier das ‹Gedicht der Zukunft›, Zeile für Zeile unsinniger werdend, als ultramodernes Kommunikations- und Produktivitätstool vor unserem inneren Auge zusammengebaut wird. Beim Lesen ist es mir so ergangen, dass ich zugleich lachen und leer schlucken musste ob dieser schrägen und doch so klugen Idee: Mit jeder Zeile nämlich zeichnete sich für mich stärker ab, was ein gutes Gedicht tatsächlich ‹bringt»: Ruhe – durchaus keine noch grössere Geschwindigkeit –, Konzentration – aber durchaus keine Miniaturisierung, keine Output-Steigerung, keine stets neuen Meldungen und Durchsagen; all die Push-Meldungen sind ja jetzt bereits eine echte Landplage …

Wohltuend, wie beim Lesen genau das aufscheint, was ein gutes Gedicht für uns sein kann: ein fragiles Wortkonstrukt, das eine unverwechselbar individuelle Wahrnehmung hervorruft, Gefühle und Stimmungen, einen noch nie gedachten Gedanken, ein überraschendes Bild. Sprachlich präzise gebaut, machen Gedichte etwa mit uns. Sie verändern unsere Zeiterfahrung, sie geben und nehmen uns Zeit, indem sie uns ohne viel Federlesens einladen, ruhig zu sitzen, uns auf sie einzulassen, genau zu lesen.

Stellen wir uns vor, Solonche hätte auch das ‹Gebet der Zukunft› als Ultraminirechner mit Telefonie- und TV-Funktionen (und vielem mehr) beschrieben! Die Fantasie des Poeten lässt uns eine zarte Stimme aus dem verwirrenden Geräuschteppich beschwörender Werbesprache heraushören. Und was die Stimme uns zuflüstert ist: Schau mal, was Gedichte können und uns an Wahrnehmung eröffnen, wenn nicht alles schneller und noch besser und multitaskiger werden muss.

Publikation mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie des Magazins.
* Das Gedicht im englischen Original z. B. auf: carbonculturereview.com


Das gedicht der zukunft wird kleiner sein.

Es wird in deine hand passen
An dein handgelenk, in dein ohr.

Das gedicht der zukunft wird nicht benötigen
Geblähte batterien oder umständliche drähte.
Es wird angetrieben sein von mondlicht und gras.

Das gedicht der zukunft wird automatisch sein.
Es wird während monaten ohne regelmässige instandhaltung funktionieren.
Es wird schneller sein, aalglatt, mit einem schuss ‹digital›.

Das gedicht der zukunft wird leichter sein.
Es wird aus plastik und exotischen metallen hergestellt sein.
Es wird in hundert verschiedenen formen und farben erhältlich sein.

Das gedicht der zukunft wird unsere leben verwirklichen.
Es wird innerhalb einer sekunde das vollziehen
wozu das gedicht von heute einen tag braucht.

Das gedicht der zukunft wird zu uns reden.
Es wird sachen sagen wie ‹für mich und dich› und ‹like mich›
Und ‹pulvis et umbra sumus›.

übersetzt von Oliver Füglister

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